Aus dem Feld: Angekommen

DORISEA Forscherin Eva Sevenig berichtet:

Baan Hadnaleng liegt direkt am Namtha Fluss. Es bietet – umgeben von Reisfeldern, Mais und Gummianbau – einen friedlichen Anblick, wenn man auf einem Berg steht und auf diese große Ansammlung von Hütten, teilweise mit Strohdächern, teilweise mit Wellblechdächern, schaut. Als ich ca. zwei Wochen vor Ende meiner Vorfeldforschungsphase endlich den Anruf bekam, dass meine Forschergenehmigung und das Visum nun bald fertig sein würden, war noch nicht klar, dass ich in diesem Dorf forschen würde. Es war mein Advisor, der mich angerufen hatte, also die Person die mir von der National University of Laos zur Seite gestellt wurde, um mir bei der Beantragung einer Forschergenehmigung und eines Visums zu helfen. Man nennt diese Person auch Counterpart oder – auf Laotisch – adjaan thi büksaa (ein Lehrer, der berät, unterstützt, hilft). Tatsächlich war dann sogar alles schnell gegangen: Binnen einer Woche, die ich Verträge-unterschreibend in der Uni und Stempel-abholend an der laotisch-thailändischen Grenze verbrachte, wurden die wichtigsten Dokumente fertiggestellt. Von einem Tag auf den anderen hielt ich plötzlich meine Papiere in der Hand.

Mit diesen im Gepäck konnte ich endlich nach Luang Namtha aufbrechen. Diese ,Metropole‘ im Norden von Laos zeigte sich bei meiner Ankunft von ihrer besten Seite: Eines der gefühlten drei Guesthäuser an den zwei verstaubten Hauptstraßen war ausgebucht. Auf dem Nachtmarkt schoben sich vier Traveller zwischen den Ständen durch.

Mein Advisor und ich begannen die Suche nach den Samtao, die den Gegenstand meiner Forschung darstellt und in Nord Laos in der Provinz Luang Namtha zu finden ist. Zunächst sah es so aus, als würden wir keinen Erfolg haben. Wen immer wir auch fragten, die Reaktion war ähnlich: „Samtao? Was soll das denn sein?“, fragten sie. Erst der Distriktbeamte, unter dessen Schutz ich zukünftig stehen würde, konnte uns nähere Auskünfte geben. Ja, es gab Samtao in der Gegend. Es wurden mehrere Dörfer genannt und nun galt es, das ,richtige‘ Dorf auszusuchen. Kann es so etwas wie ein ,richtiges‘ und ein ,falsches‘ Dorf geben? Diese Frage werde ich später noch einmal aufgreifen.

Die Kriterien, die für meine Forschung wichtig waren und die von ,meinem‘ Dorf erfüllt werden sollten, stellten sich so dar, dass es sich zum einen, wenn möglich, nur aus Samtao zusammensetzen sollte. Zum anderen hatte ich die Hoffnung, dass keine Traveller den Weg dorthin finden würden. Meine Vorstellung war ein so weit im Dschungel verstecktes Dorf, dass ein Drei-Tagesmarsch vonnöten sein würde, um es zu erreichen. Kein Strom, kein fließendes Wasser. Nur massenweise kulturelle Unterschiede zwischen mir und den Bewohnern, die es im richtigen Leben auf der Suche nach ein paar Gemeinsamkeiten zu überbrücken, im Forscherleben zu beschreiben gelten würde. In der ,Literatur‘ zu den Samtao (in ein paar Übersichtswerken können Informationen über die Samtao gefunden werden) fasziniert, dass sie einerseits ihren indigenen Geisterglauben, der sich mit dem der Lue teilweise überschneidet verfolgen, auf der anderen Seite jedoch buddhistische Elemente in ihr Glaubenssystem integrieren. Von Joachim Schliesinger waren sie als laotisch sprechend klassifiziert worden, lediglich einige ältere Samtao würden noch Samtao sprechen. Diese Tatsache, so hatte ich gehofft, würde mir einerseits eine Eingliederung leichter machen, da die laotische Sprache als Brückensprache dienen könnte, und andererseits sollte mein Wunsch die Samtao-Sprache zu erlernen mir die Türen zur Erfassung ihres Gesellschaftssystems öffnen.
Nach meiner Ankunft in Baan Hadnaleng wurde schnell klar, dass mit den vorher theoretisch aufgestellten Kriterien genauso umgegangen werden musste, wie mit einer Arbeitshypothese. Die Begebenheiten entzogen sich meinem vorher erstellten Katalog der Bedingungen und mussten neu bewertet werden.

Von Luang Namtha aus ist Baan Hadnaleng über eine holprige Straße mit etwas Glück und Geduld in zwei Stunden erreichbar. Bei meiner Ankunft tauschten der nai baan des Dorfs (Dorfchef) und ich als erstes aus. Am Rande des Naturschutzgebiets Nam Ha gelegen ist Baan Hadnaleng außerdem Ziel diverser Reisegruppen. Die meisten fahren jedoch nur durch das Dorf durch und werden, anders als in thailändischen Dörfern, von den Einwohnern kaum zur Kenntnis genommen.
Neben den Samtao leben in Baan Hadnaleng Khmu, vor allem Khmu Khwen. Manche der Bewohner nennen sich auch Lue oder Yuan.

Auch die Daten bezüglich des Glaubenssystems der Samtao, die ich eingangs sammelte, widersetzten sich hartnäckig dem vorher Gelesenen. Die Samtao stellten sich mir als stolze Buddhisten vor. Jeglichen Glauben an Geister überlassen sie den Khmu. Und ihre Sprache? Das Samtao? Nun, die Sprache, die Schliesinger als tot klassifiziert hatte, schien zunächst höchst lebendig. Nicht nur alte Menschen, vor allem auch die Dorfjugend und die Khmu-Familie, bei der ich lebte, versuchten sich gegenseitig darin zu übertreffen, mir Samtao beizubringen. Aber dies war das Eingangsbild, welches ich hatte. Mit der Zeit wurde klar, dass die vermeintliche Lebendigkeit des Samtao nur ein oberflächliches Phänomen ist. Jeder im Dorf kennt ein paar Samtao-Vokabeln, so wie beispielsweise im Westen ebenfalls jeder Deutsche ein paar Brocken Lokaldialekt spricht. Lebendig ist die Sprache tatsächlich vor allem in den Köpfen der alten Samtao. Die Samtao-Jugend erfindet die Sprache neu, mischt sie mit Khmu- und laotischen Vokabeln. Wer jedoch möchte bewerten, ob das bedeutet, dass Samtao aussterben wird? Es verändert sich, wie im Übrigen jede Sprache. Wie diese Entwicklung des Samtao weitergeht, wird sich zeigen.

Was die religiöse Dynamik angeht, musste ich lediglich meinen Blickwinkel verändern. Zwar stellt es sich mir nach wie vor so dar, dass die Samtao sich vor allem mit dem Buddhismus identifizieren. Die interessante Fragestellung in diesem Bereich betrifft jedoch die soziale Dynamik: Während die Khmu sich selbst allumfassend als Lao Theung bezeichnen, und auch von den Samtao als Lao Theung klassifiziert werden, nennen sich die Samtao selbst Samtao und werden auch von den Khmu so genannt. Der lokale Diskurs blendet vollständig aus, dass die Samtao nach der staatlichen Klassifikation ebenfalls als Lao Theung gelten. Auf der sozialen Ebene stehen die Khmu hierarchisch über den Samtao. Diese Überordnung der Khmu über die Samtao lässt sich auch einmal mehr im linguistischen Bereich beobachten: Khmu und Samtao sprechen Khmu miteinander. Die Sprache, die mich im Alltag begleitet, ist folglich Khmu. Im religiösen Kontext aber haben die Samtao sich zum Buddhismus bekannt, den der Staat dem indigenen Geisterglaube überordnet. Sie müssten also auf der religiösen Ebene den Khmu als übergeordnet wahrgenommen werden. Es stellt sich so dar, dass in der lokalen sozialen Praxis ethnisch und religiöse Über- und Unterordnungen durch- und gegeneinander laufen. Um zu diesen komplexen Fragen mehr sagen zu können, muss noch eine ganze Menge geforscht werden.

Abschließend soll auf die Eingangsfrage eingegangen werden. Gibt es ein für eine gegebene Forschung ,richtiges‘ oder ,falsches‘ Dorf?
Nun, jeder Forscher ist anders, jede Forschung gestaltet sich anders und nicht jede Samtao-Gesellschaft ist gleich. Damit ist nicht die von Ethnologen wie Leach, Lehman oder Moerman geteilte Auffassung gemeint, dass die Gesellschaften dieser Region unklare Grenzen haben. Sicher stellen sich die gleichen Forschungsfragen in sehr unterschiedlichen Dörfern eben auf verschiedene Weise. Die Menschen, die erforscht werden, mögen statistisch erfassbar sein, bestehen aber insgesamt aus Fleisch und Blut, eigenen Persönlichkeiten und Netzwerken und haben eigene Agenden und jede Menge Eigensinn. Und auch Forscher sind keine Maschinen, die Daten produzieren. Eine Feldforschung lebt von der Qualität der Beziehungen zwischen dem Forscher und den Informanten.

Manchmal, wenn ich abends über einen Schreibblock gebeugt in der Hütte ,meiner‘ Familie sitze, erschreckt mich die Möglichkeit, dass die Daten, die ich erfasse, ein Bild von DEN Samtao malen könnte, welches sie unwiderruflich festlegen wird. Als Buddhisten, als Menschen mit einem bestimmten Verwandtschaftssystem, als Menschen, die auf dem Weg zur Moderne bestimmte Strategien anwenden. Ich werde vermutlich mit all diesen Menschen einmal gesprochen haben. Es sind jedoch einige wenige Menschen, die mir helfen, dem Bild schärfere Umrisse zu verleihen: die berühmten ‚Hauptinformanten‘, inzwischen zu Recht auch ‚Experten‘ genannt. Die Abhängigkeit des Forschers von diesen Beziehungen wird in der Literatur immer wieder betont, mir aber erst jetzt in der Feldforschung erst in seiner umfassenden Bedeutung klar.
Ethnologen erforschen vor allem Beziehungen: Ge- und erlebte Beziehungen zwischen dem Forscher und den zu Erforschenden sind mit die Grundvoraussetzungen, um auch die Beziehungen innerhalb des Dorfs und andere abstraktere Beziehungen zu analysieren. Die Reflektion dieser Beziehungen wiederum stellt einen zentralen Aspekt des Forschungsprozesses dar, da so die eigene Positionierung gegenüber dem Forschungsthema intersubjektiv nachvollziehbar wird. Und doch muss der Forscher bis zu einem gewissen Grad außerhalb des Dorfbeziehungsgeflechtes bleiben um überhaupt forschen zu können. Dieser Drahtseilakt kann in meinem Fall in genau diesem Dorf, in dem fast alle vorher aufgestellten Kriterien und Ansprüche nicht erfüllt worden sind, gelingen.
Zum einen haben gerade die unerwarteten Begebenheiten viele neue interessante Fragen aufgeworfen. Beispielsweise ist die Frage, wie Geisterglaube und Buddhismus in der Interaktion zwischen Khmu und Samtao gelebt werden, mindestens genauso interessant wie die Frage, wie Geisterglaube und Buddhismus im Glaubenssystem der Samtao miteinander interagieren. Zum anderen wurde ich in Baan Hadnaleng so herzlich willkommen geheißen, dass ich begründete Hoffnung habe, dass aus einigen der anfänglich geknüpften Kontakte Hauptinformanten werden können.

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