Wie vor jeder Fahrt, die mich aus Phnom Penh herausführte, traf ich mich mit meinem Freund und Assistenten Bunnwath zum Frühstück vor dem Tempel, in dem er wohnte. Wir hatten nun schon so oft in den letzten sechs Monaten dort gegessen, dass wir zum erweiterten Familienkreis gerechnet wurden und nur noch sporadisch für das gegrillte Schweinefleisch und den Reis zahlen mussten.
Es war 7 Uhr morgens und schon viel los in der Stadt, denn die Feiertage vom „Water Festival“ fingen heute an. Normalerweise strömten jedes Jahr zum Water Festival Menschenmassen nach Phnom Penh, um unter anderem Bootsrennen zu verfolgen. Doch der „alte“ König Norodom Sihanouk war vor wenigen Wochen verstorben, und es sollte bis zur königlichen Kremation nicht gefeiert werden. So nutzten die Einwohner_innen Phnom Penhs die freie Zeit, um ihre Verwandten auf dem Land zu besuchen. Entsprechend voll war es auf den Straßen Phnom Penhs.
Wir wollten nach Poipet, den kambodschanisch-thailändischen Grenzort, der auf der Strecke zwischen Bangkok und Siem Reap (berühmt für Angkor Wat) liegt. Wir folgten damit einer Einladung zu einem Geistmedium-Fest. Für meine Forschung zu Geistern und Geistmedien in Kambodscha war dies natürlich eine günstige Gelegenheit, Interviews zu führen und mit teilnehmender Beobachtung mehr über die Arbeit der menschlichen Medien zu erfahren. Bunnwath und ich waren schon früher zwei Mal in Poipet gewesen. Dort kannten wir also schon einige „Kru“- die Geistmedien werden in Kambodscha nur „Kru“ (von „guru“ = Lehrer) genannt. Sie feierten öfter solche Feste, und wir waren gut mit dem Organisator Kru „Lok Ta Ey Sey“ befreundet, der von uns immer nur „Kru Manager“ genannt wurde.
(Foto: Andrea Lauser; Titel: Angespannte Gesichter beim Autor und Assistenten vor der Abfahrt aus Phnom Penh. Rechts im Bild das Moped des Autors mit Werder Bremen- Aufkleber. Das Bild wurde in ähnlicher Situation zu einem späteren Zeitpunkt aufgenommen.)
Es sollte aber nicht so leicht werden, überhaupt zum Fest zu gelangen. Leider war unsere Busreservierung nicht mehr gültig, als wir um kurz nach 7 Uhr am Busschalter standen. Wahrscheinlich hatte jemand mehr für die Tickets gezahlt und unsere Plätze bekommen. So fing unsere Odyssee durch die Stadt an, von Busterminal zu Busterminal, da jedes private Unternehmen eine eigene Station hat. Busse, die direkt nach Poipet fuhren, gab es nach zwei erfolglosen Stunden Suche sowieso nicht mehr. In dem Maße, in dem die Preise aufgrund der steigenden Nachfrage angehoben wurden, mussten wir unsere Erwartungen senken, noch vor Anbruch der Dunkelheit in Poipet anzukommen – immerhin dauerte die Fahrt mindestens 9 Stunden. Die Motorrad-Taxi-Fahrer, von denen wir uns durch die Stadt fahren ließen - wir drängelten uns beide auf einem Sitz- bekamen an zwei Stationen, an denen wir Tickets gekauft hatten, eine saftige Kommission. Das war auch in Ordnung, so verdienen sie den Großteil ihres Geldes. Leider waren dann beide Male die Busse so voll, dass wir die Tickets zurückgaben und das Geld für die Kommission nicht wiederbekamen. Nach turbulenten fünf Stunden des Telefonierens, Wartens und Herumfahrens saßen wir um die Mittagszeit in einem Bus Richtung Norden. Der Bus war erwartungsgemäß überfüllt. Ich hatte für die nächsten neun Stunden einen etwas losen Sitz, mit starr nach vorn geneigter Rückenlehne. Der Akku von meinem Handy war schon nach wenigen Minuten leer, und so versuchte ich, es wie alle Kambodscher_innen im Bus zu machen- nicht ärgern, eintönige Karaoke-Videos gucken und warten, bis es vorbei ist.
(Quelle: Autor; Titel: Abendliche rush-hour)
Abends mussten wir noch einmal in ein „Taxi“ umsteigen. So wurden die privaten Autos genannt, die für Überlandfahrten genutzt wurden. Ein Auto bietet normalerweise Platz für sieben Personen, drei vorn, vier hinten. Bei erhöhter Nachfrage kann auch der Fahrersitz von zwei Menschen geteilt werden und hinten können es bis zu sechs Personen werden. Diesmal hatten wir etwas Glück und fuhren unter relativ angenehmen Umständen nach Poipet.
Unsere Kontaktperson vor Ort, der „Kru Manager“, rief uns mehrmals an, um zu fragen wo wir blieben. Als wir endlich um 21 Uhr im Haus der Gastgeber ankamen, waren schon ca. zehn Kru dort, die aber bereits fast alle schliefen. Es gab ein nettes „Hallo“ mit den zwei Gastgebern, einem Ehepaar, die beide recht wohlhabende Kru waren. Sie freuten sich sehr, dass wir diesmal bei ihnen schliefen und nicht wie die letzten Male im Hotel. Im größten Zimmer, in dem alle Gäste auf Matten auf dem Boden schliefen, war ein großer „Schrein“, wenn man dieses christliche geprägte Wort für den mit geflochtenen Palmenblättern und mit vielen Statuen u.a. von Buddha geschmückten „Ort der Verehrung“ benutzen möchte. In Kambodscha heißt ein solcher „Schrein“, an dem Geister (und keine Götter) verortet werden in phonetischer Schreibweise „Bey Sei“.
Nach einer kurzen Dusche legten wir uns auch vor dem Bey Sei im Haus schlafen. Es schien ein gedämmtes Licht auf den Bey Sei und die Nacht über lief leise sogenannten „alte Musik“, die an indonesische Gamelan-Musik erinnerte. Solch eine friedliche Stimmung war der perfekte Ausklang für diesen stressigen Reisetag.
Am nächsten Morgen wurden wir früh um 6:30 Uhr geweckt, aber die Vorbereitungen für das Fest liefen bereits auf Hochtouren. Es wurden Boote aus Palmenholz geschnitzt, viele kleine , etwa ein Meter hohe Türmchen aus Palmenblättern geflochten, Essen vorbereitet und Reis abgefüllt, der später an die Dorfbewohner verteilt werden sollte. Alle Sachen mit Ausnahme vom Reis wurden im großen Zimmer vor den Bey Sei gestellt.
Mitten in die Vorbereitungen fiel der Fahnenappell der Geistmedien, der vor solchen Festen immer veranstaltet wird. Die kambodschanische Flagge und zwei buddhistische Dharma-Flaggen wurden gehisst. Dazu spielten Musiker eine eigenwillige Version der Nationalhymne und einige der anwesenden, erfahreneren Geistmedien pressten ihre Hände aneinander, konzentrierten sich und luden damit ihre Geister (in ihre Körper) ein. Ein älterer Mann war bekannt dafür, dass er einen sehr dynamischen Geist hatte. Nach einer Weile der Konzentration, die von einem leichten Schütteln des ganzen Körpers abgelöst wurde, tanzte er wild umher und verlangte lautstark nach einer weiteren kambodschanischen Flagge. Da die hektische Suche einiger Helfer zuerst ergebnislos blieb, tanzte der junge Geist des alten Mannes eng verschlungen mit der Fahnenstange. Ich war anscheinend der einzige, der bei dieser Vorstellung an ‚pole dance‘ dachte, aber einen unterhaltsamen Aspekt hatte dieser Teil der Zeremonie für alle.
(Quelle: Autor; Titel: Die Geistmedien ehren ihre Geister zum Fahnenappell. Rechts die Musiker, hinten im Bild den Ort ein Tempel in Miniaturformat, der den Ort der Verehrung bestimmter Geister (wie Devata) darstellt.)
(Quelle: Autor; Titel: Ein Geistmedium tanzt beim Fahnenappell. Vor ihm ein Podest für Opfergaben, um ihn stehend andere Geistmedien und schaulustige Kinder.)
Nur die Mönche, die in hinter uns die Treppe zum großen Raum hochgingen und der Feier mit ihrer Präsenz einen offiziellen „buddhistischen“ Anstrich geben sollten, guckten argwöhnisch auf die vor der Flagge tanzenden Kru. Mit den Mönchen kamen auch viele Dorfbewohner zum Haus der Gastgeber. Nach dem Fahnenappell fand das allmorgendliche Dana, die Gabe von Speisen von Laien an Mönche unter den üblichen, 1-2 stündigen Ritualen statt. Die Geistmedien pflegen gern den Kontakt zu Mönchen, denn sie sehen ihre Geister als Teil des buddhistischen Pantheons. Viele der Mönche sehen das allerdings nicht so. Während die Mönche bewirtet wurden, hatten die Kru die Vorbereitungen vor dem Bey Sei abgeschlossen. Die Mönche gaben dem Bey Sei noch ihren Segen; ihre Träger nahmen dafür reichhaltige Spenden entgegen.
Der Sinn der Veranstaltung war die Ehrung der Geister und die Vermeidung von schlechten Energien, aber sicher spielte auch ein gemeinschaftlicher Aspekt eine Rolle. Es waren mittlerweile über 20 Kru gekommen. Viele kannten sich untereinander und begrüßten sich herzlich. Die wenigen Nicht-Kru, die jetzt noch da waren, waren Familienangehörige der Kru, Sponsoren des Festes, die sich segnen lassen wollten und wir beiden Forscher.
Der eigentliche Hauptteil der Zeremonie konnte nun losgehen: vor dem Bey Sei spielten die Musiker „alte Musik“ und die Geistmedien luden ihre Geister ein. Noch nie hatte ich gesehen, dass diese Zeremonie in einem Haus stattfand. Meist luden die Medien ihre Geister an alten Tempelstätten in freier Natur ein. Es war etwas eng in dem Raum.
(Quelle: Autor; Titel: Fast alle Personen auf diesem Bild sind Geistmedien, die nach dem Ende der buddhistischen Zeremonie dem „Kru Manager“ lauschen, der von Lautsprechern verstärkt alle bekannten und anwesenden Geister persönlich einlädt.)
Die Musik setzte wieder ein- lauter als zuvor. Die Kru machten sich bereit, ihre Geister einzuladen. Das wichtigste Werkzeug hierfür sind Räucherstäbchen. Manche machten drei, fünf oder neun Räucherstäbchen an; andere gleich eine oder zwei Packungen. Die Erlangung der Besessenheit der Medien geschah oft sehr schnell nach einer kurzen Meditation mit gefalteten Händen. Der Ritualleiter, in diesem Falle Kru Manager, besprühte einige Medien mit Parfum, was die Erlangung der Besessenheit immer stark beschleunigte. Plötzlich sprangen manche auf, andere fielen um; die Augen waren oft starr in die Ferne gerichtet oder blieben halb-geschlossen. Es war deutlich zu sehen wann die Veränderung im Körper der Medien stattfand. Danach tanzten die meisten zur Musik; sehr frei und nicht geordnet, wie zu offiziellen Veranstaltungen üblich. Dabei „segneten“ sie die wenigen Nicht-Kru mit Parfum.
Eine alte Kru aus Battambang wurde sehr früh schon besessen. Ihren „Segen“ drückte sie mit harten Schlägen auf die in Ehrerbietung gesenkten Köpfe der Anwesenden aus. Ich filmte diese Szene mit meinem Handy, da ein kleiner Neffe der Gastgeber gerade meine Kamera in Beschlag hatte. Mein weit vorgestrecktes Handy schien leider die Aufmerksamkeit der Alten zu erregen und ich bekam auch einen heftigen Schlag von ihrer mit zahlreichen Ringen besetzten Hand.
Kurz darauf wurden drei andere Frauen gleichzeitig von recht aggressiven Geistern besessen, unter ihnen eine Frau, die alle ängstlich zusammengerückten Zuschauer angriffslustig anzischte. Die meisten der mittlerweile ca. 20 Kru tanzten aber sehr ruhig auf der Stelle, meist mit geschlossenen Augen.
Mir gefielen diese Veranstaltungen immer außerordentlich gut. Es war aufregend und unvorhersehbar, was passieren würde. An diesem Tag geschahen wieder erstaunliche Dinge:
Das interessanteste Ereignis spielte sich inmitten der zusammen gepferchten Zuschauer_innen im Raum der tanzenden Kru ab, dass einige junge Besucherinnen diese Zeremonie nur wegen mir besucht hatten, dem „Kru Barang“ (wörtliche Übersetzung: „französischer Lehrer“; sinngemäße Übersetzung: „westliches Geistmedium“). Ich fragte sie, wie sie zu dieser Annahme gekommen waren und sie antworteten, dass ich ja die Nacht vor dem Bey Sei geschlafen hätte, was nur Kru machen würden. Außerdem hätten sie von Kru Manager gehört, dass ich einen mächtigen, „westlichen“ Geist habe, den sie nun gern sprechen würden.
Kru Manager, den ich zu dieser Zeit schon recht gut kannte, war seit unserem ersten Treffen überzeugt davon, dass ich nicht zufällig dieses Forschungsthema gewählt hatte. Sein Geist hatte ihm gesagt, dass ich in einem früheren Leben vor vielen hundert Jahren ein Kommandeur von Khmer-Streitkräften war. Die Macht von damals wäre immer noch in meinem Körper und ein westlicher Geist, der „Ta Noel“ würde mich leiten und unterstützen.
„Ta Noel“ heißt wörtlich übersetzt „Großvater Weihnachten“. Der Kru Manager wurde von Geschichten inspiriert, die er über den „Weihnachtsmann“ gehört hatte. Ich musste die Mädchen leider enttäuschen: nein, ich spürte keinen Geist von Ta Noel in meinem Körper.
Die Figur des Weihnachtsmannes in Kambodscha ist aber keinesfalls so abwegig, wie man denken könnte. Thomas Hausschild (2012) zeigt, dass zeitgleich zu Europa auch in China Vorstellungen von einer ähnlichen Figur wie dem Weihnachtsmann entstanden und sich von dort ausbreiteten. Jeder interessierten Person sei diese Publikation nahegelegt.
Leider wurden an diesem Nachmittag meine schon früher auftretenden Kopfschmerzen immer stärker. Nicht nur der Schlag der alten Kru, auch die brennende Sonne des Vormittags hatte mir stark zugesetzt. So suchten wir unsere Sachen zusammen, während es eine kleine Umbaupause gab. Noch bevor wir fertig waren, fing eine Zeremonie zu Ehren der Gastgeber an.
Leider war das Tor verschlossen. Draußen warteten Hunderte von Menschen auf die Reisspende, die die Kru zum Ende der Veranstaltung austeilen würden. Alle, die einen Schlüssel für das Tor hatten, knieten im Haus vor dem Gastgeber-Pärchen. Nach einigem mittlerweile unerträglichen Warten in der prallen Sonne fiel uns ein, dass wir für Unterkunft und Essen wohl auch noch eine Spende an die Gastgeber machen sollten.
Wir mussten dafür recht aufdringlich sein, da die Gastgeber nun auf der Plattform, auf der sie vorher schon saßen, in einer Prozession um den BS getragen wurden. Die Frau der GK wurde besessen, und rekelte sich aufrecht kniend, wild Parfüm in die Luft sprühend Ihr Mann redete in einer Phantasie-Sprache vor sich hin. Ein seltsames Pärchen...
(Quelle: Autor; Titel: Die Zeremonie zur Ehrung der Gastgeber; vom Balkon aufgenommen. Die Gastgeber (bzw. ihre Geister) auf dem Podest bedanken sich für die Ehre, in dem sie die Anwesenden durch das Werfen von Blumenblüten und das Versprühen von Parfum segnen.)
Kru Manager, von dem ich mich verabschieden wollte, hielt meine Kopfschmerzen für einen Versuch von Ta Noel, in meinen Körper zu gelangen. Er riet mir, mich zu entspannen und zu tanzen, aber ich war mir sicher, dass ich einen kleinen Sonnenstich hatte und wollte lieber gehen. Im Hotel fand ich die Karaoke Videos plötzlich sehr entspannend
Ich werde in meiner Dissertation zeigen, warum die Vorstellung vom Weihnachtsmann bzw. „Sankt Nikolaus“ sehr gut in eine Kategorie von Geistern in Kambodscha passt. Außerdem werde ich darin das Portrait eines Kru bringen, der meint von Ta Noel besessen zu sein. Ein bisschen Geduld ist allerdings noch nötig, um dies nachzulesen. Meine Dissertation mit dem Arbeitstitel „Geister in Kambodscha- Praxis, Macht und Politik“ wird voraussichtlich 2015 publiziert.